Es sollte eine kleine Auszeit sein nach einem strengen Tag in der Schule. Der Besuch in der Tonhalle Zürich-einem an sich sehr formalen Ort, doch schien es mir, dass auch diese Institution sich von Besuch zu Besuch etwas entspannt und tatsächlich mit der Zeit geht. Da sind jung wirkende, lockere und entspannte Menschen, die gemeinsam eine Leidenschaft für intensive, symphonische Musik teilen und das hat nur dann etwas biederes, wenn man die protzigen Autos vor den Toren betrachtet und hat nur dann etwas altbackenes, wenn man die Tendenz zur Grauhaarigkeit im Publikum überbewerten will. Aber sonst fühlte ich mich jung und mitten drin. Also tatsächlich eine Auszeit?
Doch Entspannung war erst einmal nicht angesagt. Esa Pekka Salonen der „Composer in Residence“ dieser Tonhallensaison eröffnete mit einem Stück, genannt „Helix“. Diese „Helix“ war dann auch programmatisch in der Musik erkennbar und tatsächlich hatte das Stück etwas Windendes und stark Entwickelndes bzw. Aufwärtsstrebendes in der Musik. Das Stück war als ein einziges Accelerando angekündigt worden und das war es dann genau genommen schon nicht. Das heisst, vielleicht war einfach die Entwicklung des Tempos zu wenig linear, als dass man es wirklich als runde Windung hätte ausmachen können. Das Stück gefiel mir an sich sehr gut und die kreativen Instrumentalklänge und die Kraft des Orchesters machten Eindruck. Doch für eine Komposition aus dem Jahre 2005, erschien mir das Gehörte schon fast brav und hätte ich raten müssen, so wäre ich vielleicht irgendwo bei der Auflösung der Tonalität und dem Expressionismus anfangs des 20. Jahrhunderts gelandet. Natürlich musste ich diese Kritik auf halbem Weg wieder herunter schlucken, als ich im Begleitheft las, dass sich der Komponist an ebensolche Bemerkungen von Journalisten sehr genervt gezeigt hatte und verlauten liess, dass im Post-Serialismus kein falsch und richtig gelten sollte. Und damit hat er natürlich recht.
Und dann kam Wang. Yuya Wang. Sie betrat die Bühne elegant, jung, schlank und ohne viel Tamtam. Für Letzteres sorgte aber das Ungetüm eines Flügels, auf welchem Sie ihre Arbeit zu Beginn des nächsten Stückes gleich aufnahm. Auf dem Programm stand nämlich das sagenumwobene „Rach three“, also das dritte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow, welches mit seinen technischen Höchstschwierigkeiten und seinen unendlichen emotionalen Ausbrüchen schon gestandene Pianistenlegenden um den Verstand
gebracht haben soll und welches sich tatsächlich als ein ungeheurliches Werk entpuppte. Da war also diese unglaubliche Frau aus China, welche – 5 Jahre jünger als ich – im Zentrum eines riesigen Konzertsaals eine Mordsmaschine von einem Klavier bearbeitete, als gäbe es kein Morgen. Doch es war nicht etwa gewalttätig oder pompös. Es war auch nicht zart und flüsternd oder impulsiv und unberechenbar. Es war alles zusammen. Nacheinander und zeitgleich. Die mir unbekannte Komposition entpuppte sich als Feuerwerk der Themen, als Paradies der Kontraste und Klangfarben und als Märchenwald der Gefühle und Entwicklungen. Da waren die romantischsten und eingängigsten Melodien auf einer Ebene mit wunderbar verfremdenden Gegenthemen. Heftige Kontrapunkte ergänzten sich zu wuchtigen Energieschüben und dabei wirkte sowohl das Klavier, wie auch das Orchester als ebenb
ürtige Kontrahenten.
Da ging die Post aber mächtig ab und was dieses Persönchen auf der Bühne gegen dieses 60-köpfige Sinfonieorchester aus dem Hut zauberte war schlicht unglaublich. Natürlich hat dies Rachmaninow so gemeint und so geschrieben und natürlich hat Wang einfach die Noten gespielt, die sie zu spielen hatte. Doch wie gesagt, stand auf der anderen Seite ein gewaltiges Sinfonieorchester und dagegen muss man zuerst auch physisch und energetisch anhalten können. Das Ende glich einem einzigen Feuerball und war noch einmal ein Kulminationspunkt and Begeisterung und Energie gefolgt von einem obligaten Ausbruch des Publikums. Niemand hielt es da im Sessel und zur Belohnung der Klatschkunst gab es noch ein bisschen Carmensuite für das Grand Piano, Schwierigkeitsgrad XXL. Achja, die Bilder sind also von ihr und wie man sieht muss musikalische Weltklasse und Mini-Rock kein Gegenteil sein. Ob sie sich nun trotz oder gerade deswegen verkauft lasse ich hier offen. Schade ist, dass Äusseres überhaupt zum Thema wird angesichts solchen Könnens.
Und dann durfte noch einmal das Orchester ran. Mussorgsky’s Bilder einer Ausstellung sind so bekannt, dass es schwierig ist, damit nicht zu langweilen. Doch Langweile wollte nicht mehr aufkommen an diesem Abend. Zugegeben, in den ersten fünf Minuten war einem nur allzu bewusst, wie viel simpler dieses
Werk doch gestrickt war und was man eigentlich an Rachmaninow gehabt hatte. Doch nun hatte man Mussorgsky und wieder einmal merkte ich, dass eben auch in der Einfachheit das Glück finden kann. Noch dazu wenn Maurice Ravel eine Orchestrierung geschrieben hat, die dem Tonhalleorchester wie auf den Leib geschneidert wirkte. Warm-süsse Holzbläser, schneidende Blechbläser, gewaltige Tuttistellen. Dazu die einzelnen Themen, mit welchen sich Mussorgksy unsterblich machte. Ein einziger klanglicher Ohrenschmaus war dieser Abschluss und dynamisch konnte man endlich diese vielbeschworene Flexibilität und Bandbreite bestaunen, die tatsächlich in diesem Orchester steckt. Nach meinem Dafürhalten wir sie nur viel zu selten auch wirklich voll ausgeschöpft.
Zum Schluss möchte ich nachschicken, dass eine solche Auszeit am Abend in der Tonhalle eine feine Sache ist und das Gemüt und die Seele zu einem grossen Service mit Tankstop kommen. Von mir aus gerne wieder! Leider sind nicht alle Abende derart vollgepackt mit Leckerbissen und gewiss wurde ich etwas sehr verwöhnt heute. Aber, man gönnt sich ja sonst nichts.
F. Auchter, 26.2.2015