Artikel von Penelope Taiganidis zum Ballett „Walkways“
Am 20. Oktober besuchte ich mit meinem Vater seit Jahren wieder einmal das Opernhaus, da er mich zu einer Ballettaufführung einladen wollte, weil ich wieder zu Tanzen begonnen hatte.
Hier standen wir also, vor dem Eingang des Opernhauses. Ich mit einem leeren Notizblock und einem Stift in der Hand. Das Geräusch angeregter Gespräche feingekleideter Damen und Herren um uns herum mischte sich mit denjenigen, die sich genauso für Kultur und Kunst interessierten, aber mit ihren individuellen Looks trotzdem aus der Menge an elegant-dezenten Kleidern und schwarzen Anzügen rausstachen.
Ein durchmischtes Publikum streute sich über die Reihen des edlen Saals, welches noch nichts ahnend, später gebannt wie noch nie das Bühnenspektakel verfolgen würde. In der siebten Reihe, in unmittelbarer Nähe des sich einspielenden Orchesters, sass ich nun also, der Vorhang so nah und als das Licht erlosch, realisierte ich, dass meine Notizen wohl kaum äusserst schön ausfallen würden. Als sich jedoch der Vorhang öffnete, war da ein Tänzer, dann kamen immer mehr, und ein jeder Gedanke an die Organisation dieses Artikels war wie weggewischt.
Wir tauchten ein in eine Stadt, die nicht existierte, aber zugleich eine jede hätte sein können. Ein geschäftiges, kontinuierliches Treiben war durch die Leinwand im Hintergrund dargestellt. Es schien, als würden sich tausend verschiedene Tänzer über die Bühne bewegen, und überall wo man den Blick hin schweifen liess, machte es den Eindruck, als würde dort eine eigene, unaufgedeckte Geschichte spielen, die undurchsichtig aber zugleich so klar, scheinbar völlig unabhängig, und gleichzeitig so im Einklang mit den anderen, ihren Weg nahm. Es schien, als wären sie alle abhängig voneinander, als spielten zusammen ein grosses Spiel.

Das erste Stück der Trilogie „Walkways“ heisst „Infra“, es erzählt eine Geschichte über städtische Anonymität.
Und wie die Bühne, wie ein scheinbar einsamer Platz am Anfang nur von einem Tänzer erlichtet war, es dann immer mehr wurden, und eine belebte, geschäftige Szenerie durch die Tänzer*innen gemalt wurde, die Bühne, die sich sogleich in einen Ort wie die Bahnhofstrasse verwandelt hatte, beinahe aus den Nähten zu platzen schien, überall wo das Auge hinreichte, war da noch ein Einzelschicksal verkörpert in einem Ebenbild, das eine gegenwärtige Realität nicht noch kräftiger und ehrlicher auszudrücken vermögen könnte, als sie uns täglich vor Augen liegt. Einmal war da eine Tänzerin, die stehen blieb und zusammenbrach. Das Bild, wie die Masse fast nahtlos an ihr vorbeizog, so teilnahmslos, erinnerte an einen Felsen in einem stark-reissenden Fluss. Bis sie bemerkt wurde. Und manchmal braucht es auch nur jemanden, der sich einer Hilfeleistung, aus Angst, die falsche Person zu sein, nicht entzieht und nicht einfach weitergeht. So greift dieses Stück auch diese, man könnte es auch städtische Ignoranz nennen, auf.

„Infra, 2008 für das Londoner Royal Ballet entstanden, taucht ein in das pulsierende Leben einer Grossstadt und richtet den Fokus auf die Begegnungen, die unter einer hektisch vibrierenden, scheinbar anonymen Oberfläche stattfinden.“ So äussert sich das Ballett Zürich zum Stück.
Dieses Stück wurde von Wayne McGregor choreographiert und zur Musik von Max Richter inszeniert.
Im darauffolgenden Stück verfolgte das Publikum jedoch nur noch eine Geschichte. Eine Geschichte über einen Mann, der mit zwei Lieben lebte. Auf der einen Seite war er mit einer kalten, hypochondrischen Frau verheiratet, die von Shelby Williams gespielt wurde, und sich so einvernehmlich geisterhaft, wie eine lebende Tote auf ihren Zehenspitzen durch das Stück tanzte, dass der Kontrast zu der neugefundenen Liebe ihres Mannes, die von Dorés André getanzt wurde, kaum augenscheinlicher hätte sein können. Während sich die scheinbar unauswegliche Dreiecksbeziehung immer weiter entfaltete, und Charles-Louis Yoshiyama in der Hauptrolle, immer stärker zwischen seiner leidenden Gemahlin und seiner neugefundenen Liebe hin- und hergerissen war, kam es im Laufe der Geschichte zu einem Unfall in einem Schneesturm, in dem zwei der Charaktere in grosse Gefahr gerieten und scheinbar blind vor Verzweiflung umherirrten.

Das Stück „Snowblind“ ist eine eigene Kreation der neuen Direktorin des Zürcher Ballets, Cathy Marston, in dem menschliche Gefühle und Konflikte aufgegriffen, und in tänzerischem Ausdruck einem so hautnah kommen, dass man meinen könnte, es seien seine eigenen.
„Glass Pieces“, der letzte Teil der Triologie ist ein Stück des amerikanischen Choreographen, Jerome Robbins.
In der Stückbeschreibung steht, „Glass Pieces“ sei eine Piece, welches von den Energien urbanen Lebens angetrieben werde, welches eine gewisse Parallele, den sonnigeren Zwilling von „Infra“ verkörpert. Doch für mich sah es nicht so aus, als würden die Tänzer*innen eine Geschichte tanzen, die nicht vielleicht sogar ganz von ihnen erfunden sein könnte. Denn so wie sie sich die Bühne hier zu eigen machten, fällt mir nur ein Ausdruck ein: ehrliche Lebensfreude. Insofern gleicht dieses Stück dem ersten. Überall wo man hinsah, schreitete, drehte oder sprang ein Tänzer oder eine Tänzerin mit einer Aura, die förmlich zu schreien schien: „Schau mich an!“ So schien der Raum auch hier geradezu erfüllt und komplett, da das Tanzensemble alles in diese Aufführung gab, was es hatte.


Die Art und Weise wie sich jeder einzelne von ihnen so hingab und was als Ganzes eine solche Harmonie zufolge hatte, wirkte auf eine so natürliche Weise perfekt, dass der Tanz schon fast zeremoniell wirkte. So ausdrucksstark und erfrischend dynamisch war scheinbar jede einzelne Bewegung, hinter welcher man besonders hier eine präzise Konzeption erkennen kann, welche nur durch jahrelanges Training und wahre Leidenschaft erfolgen könnte, die die Tänzer*innen ausübten. Sie waren hier Szenerie; Hintergrund, Mittelgrund und Vordergrund, aber in meinen Augen auch Charaktere; sie tanzten nämlich sich selbst. „Glass Pieces“ war ein Erlebnis für sich, indem das Ballet Zürich stolz sein Ensemble zur Schau stellte, welches in diesem Stück so unglaublich einheitlich und auf eine unergründliche Weise ehrlich wirkte. In diesem Stück wurden sowohl Leidenschaft, Kraft als auch eine unermüdliche Ausdauer in einer von Detail wimmelnden Choreographie voller Symmetrien und Asymmetrien aufgezeichnet. „In der Verschmelzung von Athletik und Eleganz, klassischem Ballett und Modern Dance entfaltet das riesige Tänzerensemble eine vibrierende Architektur aus Körpern und Bewegungen.“

Wenn jemand mich fragen würde, was ein Ballett alles sein kann, würde ich dieses Stück nennen. Ich und mein Vater waren beidseits begeistert und hätten „Glass Pieces“ gerne gleich noch einmal gesehen.
Mit dieser dreiteiligen Ballettaufführung läutet das Ballet Zürich eine neue Ära ein; Cathy Marston beginnt nämlich hiermit ihre Zeit als Direktorin des Tanzensembles, meiner Meinung nach mit einer wundervollen Trilogie.
Jedes einzelne Stück wurde von dem Orchester der Philharmonia Zürich mit Musik angereichert, während sich das Ballett Zürich dazu bewegte.